Satire, Fiktion oder Wirklichkeit?Meine Reise zur Insel Rügen oder der 85. Geburtstag.

Satire, Fiktion oder Wirklichkeit?

Meine Reise zur Insel Rügen oder der 85. Geburtstag.

Im vergangenen Herbst habe ich mir überlegt, einen Urlaub auf der Insel Rügen zu verbringen, und im März dieses Jahres habe ich mich auf den Weg gemacht, Deutschlands größte Insel zu besuchen. Ich bin dort viele Jahre nicht mehr gewesen, mindestens 15 Jahre. Zum ersten Male war ich auf Rügen im September 1990, exakt eine Woche vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten.

Wie fühlt es sich heute an, was hat sich wohl verändert? Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf, und als ich nach vier Stunden Autofahrt am Fischland war, kam mir die Idee, einen Abstecher nach Dierhagen zu machen, dort hatte ich im Jahre 1993 gewohnt, als ich in Mecklenburg eine besondere Aufgabe zu erledigen hatte. Doch dazu später mehr.

In Dierhagen an der Ostsee gab es damals das Hotel Fischland, ein gutes Hotel mit einem sehr guten Restaurant und einem besonderen Ambiente. Das Hotel gibt es noch, und wie immer waren fast alle Tische besetzt. In einem Nebenraum saß eine Gruppe von etwa 30 Personen vorgerückten Alters beisammen. Ich stutzte mehrfach, dann erhob sich eine hochgewachsene, grauhaarige Person aus der Mitte: es war mein alter Nachbar, Egon Krenz, das langjährige Mitglied des Staatsrates der DDR und deren letzter Vorsitzender. Mein Nachbar aus Dierhagen, den ich vor 30 Jahren dort kennengelernt hatte – und er lud mich ein, in der Runde Platz zu nehmen: Er feiere gerade seinen 85. Geburtstag.

Ich dachte nur, dass er sich an dich noch erinnern kann? In jenem Jahr 1993 hatten wir uns manchmal unterhalten, wenn wir uns auf der Straße getroffen haben. Keine tiefschürfenden Gespräche, eben von Nachbar zu Nachbar. Nun saß ich neben Christa Luft, der letzten Wirtschaftsministerin der DDR, und Hans Modrow, dem letzten Vorsitzenden des Ministerrates von 1989 bis 1990. Er erzählte, als sei es gestern gewesen, von seinem Treffen mit Bundeskanzler Kohl in Bonn im selben Jahr und, nach dem Ende der DDR, von seiner Zeit im Bundestag und im Europaparlament. Mittlerweile hat er schon 94 Lebensjahre erreicht.

Von Frau Prof. Dr. Christa Luft, 84 Jahre alt, habe ich viel über ihre politischen Funktionen und über ihre wissenschaftlichen Arbeiten erfahren, dem Aufbau einer Kooperation von osteuropäischen Universitäten mit der Pariser Sorbonne und ihre Habilitationsschrift „Die ökonomischen und psychologischen Marktfaktoren beim Export der DDR“. Übrigens stammt sie aus Krakow am See, einem Ort in Mecklenburg, den ich am Vormittag passiert hatte.

Für die beiden war nun interessant, welches meine Aufgabe damals 1993 war. Sie wollten wissen, weshalb es mich von Hannover nach Mecklenburg verschlagen hatte. So erzählte ich Ihnen zunächst von meiner Tante, die 1937 ebenfalls von Hannover nach Wesenberg in Mecklenburg umgezogen war, um dort mit ihrem Mann im neuen Zweigwerk ihres Chefs eine neue Aufgabe zu übernehmen. Leider kam nach zwei Jahren der Krieg, und sie verlor nicht nur ihr Hab‘ und Gut, sondern auch ihren geliebten Mann.

Ich arbeitete damals für einen großen Automobilproduzenten und sollte die Niederlassungen der „Ostseetrans“ für unser Unternehmen akquirieren, eine Aufgabe, die mich auch durch die Erzählungen meiner Tante über das Land Mecklenburg neugierig gemacht hatte. Ostseetrans, das war der „VEB Kombinat Kraftverkehr Ostseetrans“ in Rostock mit acht Betriebsteilen entlang der Küste von Grevesmühlen nahe der Grenze zum „Nicht-sozialistischen Wirtschaftsraum“ (NSW, also BRD) bis zur Insel Usedom, der Grenze zum sozialistischem Bruderstaat, der Volksrepublik Polen. Diese Betriebsteile wollten wir als Vertragswerkstätten für unsere Niederlassung in Rostock integrieren, keine leichte Aufgabe, denn es ging ja einerseits um die Reduzierung von Arbeitsplätzen, aber auch andererseits um die Schaffung neuer Arbeitsplätze mit Zukunft, und um Menschen, die mit der neuen Freiheit erst zurechtkommen mussten.

Nach der Begrüßung und unseren Gesprächen stellte Egon Krenz sein neues Buch vor, seine Erinnerungen „Aufbruch und Aufstieg“, der erste von drei Bänden, er betrifft die Jahre 1937 bis 1973. Die Gäste applaudieren begeistert, als er den Band in die Höhe hielt. Krenz unterstrich, dass die Geschichte das letzte Wort noch nicht gesprochen habe. „Es wird sicher früher oder später Generationen geben, die die Werte der DDR positiver beurteilen als das heute geschieht“, meinte er.  Noch einmal heftiger Applaus. Danach zitierte Krenz mehrere Passagen seines Buches, und es begann eine lebhafte Diskussion, an der ich mich aus verständlichen Gründen nicht beteiligen konnte und wollte.

An diesem Abend bin ich nicht mehr nach Rügen gefahren, sondern im Hotel geblieben. Die halbe Nacht geisterten die Gedanken durch meinen Kopf, um die Gespräche der Gäste und meine Erinnerungen an die aufregenden sieben Jahre meiner Tätigkeit in Mecklenburg. Nachdem ich die halbe Minibar ausgetrunken hatte, bin ich dann irgendwann eingeschlafen.

Am nächsten Morgen habe ich meine Fahrt nach Rügen fortgesetzt, es ist doch ein weiter Weg zu Deutschlands größter Insel im äußersten Nordosten. Der alte Rügendamm existiert noch, aber den stark gestiegenen Autoverkehr kann er nicht mehr bewältigen, der Hauptverkehr wird jetzt über die neue, 2800 m lange Schrägseilbrücke geleitet. Wie eine überdimensionale Stimmgabel erscheint der Pylon der Brücke und überspannt den Strelasund, ein beeindruckendes Bauwerk.

In der Mittagszeit habe ich dann auf Rügen mein Quartier gefunden und habe mich in der folgenden Woche herrlich erholt. Das Wetter hat mitgespielt, es war warm und sonnig, und es lud zum Radfahren und zu langen Spaziergängen ein. Die touristischen Highlights wie Kap Arkona, die Stubbenkammer, die feinsandigen Strände und die Steilküsten bei Binz und Sellin sowie ein Ausflug zur benachbarten Insel Hiddensee kamen nicht zu kurz.

Rügen hat mir wieder gut gefallen, es ist eine Insel mit Charme und Zukunft. Nächstes Jahr fahre ich wieder hin.